Austeritätspolitik frisst Menschenrechte

8 07 2013

Wiener Menschenrechtsgespräche (3): Michael Windfuhr

SENDUNG: Journal Panorama, 2. Juli 2013, 18:25 Uhr, Ö1

Bei der UN-Menschenrechtskonferenz 1993 in Wien gab es vor allem zwei strittige Themen: Einige Staaten Asiens, Afrikas und der arabischen Welt wehrten sich gegen die Idee, dass Menschenrechte universell gültig seien. Eine Idee des Westens, sagten sie. Man müsse das in jeder Kultur anders definieren. Europa und die USA wiederum wollten nichts wissen davon, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („WSK-Rechte“) – etwa die Menschenrechte auf Ernährung, auf Bildung oder Entwicklung – gleich bedeutend sein sollten, wie politische Rechte, also: das Recht auf freie Meinungsäußerung oder Versammlungsfreiheit. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Das Abschlussdokument erteilte dem Kulturrelativismus eine Abfuhr. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte wurden im Gegenzug als gleichbedeutend festgeschrieben, wie politische Rechte. Einer, der sich bereits 1993 für WSK-Rechte engagierte, ist der Deutsche Michael Windfuhr.  Er ist Mitbegründer der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN (Food First Information and Action Network), die sich besonders für das Menschenrecht auf Nahrung einsetzt.  Heute ist Michael Windfuhr stellvertretender Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte.

foto (c) vienna+20

„Menschenrechte in der Krise“, lautete der Titel der NGO-Konferenz, die im Vorfeld zur offiziellen Vienna + 20-Konferenz in der Wiener Hofburg stattfand. Welchen Einfluss hat eigentlich die aktuelle Wirtschaftskrise auf die Menschenrechte in Europa?

Michael Windfuhr: Die Menschenrechtssituation ist sehr angespannt, gerade, was wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte anbelangt. In Griechenland zum Beispiel, steht ja schon die Demokratie als solche in Frage. Durch die Sparauflagen, die Griechenland verordnet worden sind, finden systematische Ausschlüsse von Teilen der Gesellschaft im Zugang zu ganz wichtigen sozialen Grunddienstleistungen statt. Ein Drittel, las ich neulich, haben kaum noch Zugang zu medizinischer Versorgung. Ich sprach mit einem deutschen Arzt, der in einem Center arbeitet, das sich eigentlich um Flüchtlinge kümmert. Er sagte, sie haben inzwischen gar keinen Platz mehr für Flüchtlinge. Es kommen nur noch Griechen. Und inzwischen stehen schon die Rechtsradikalen vor der Tür und sorgen dafür, dass auch wirklich nur noch Griechen Zugang haben zu diesen Einrichtungen. Den Rest des Beitrags lesen »





„Hay vidas en juego“ – Prekariat und Empörung auf der Iberischen Halbinsel

28 04 2013

SENDUNG: Matrix, Sonntag, 28. April 2013, 22:30 Uhr, Ö1

Immer mehr Spanier und Spanierinnen stehen auf der Straße. Sie können die Kreditraten für ihr Eigenheim nicht mehr bezahlen. In den vergangenen Jahrzehnten hatten sie sich Wohnungen oder Häuser gekauft und dafür langfristige Kredite aufgenommen. Doch dann kam die Krise.

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Soziale Gräueltat Zwangsräumung

In einem Youtube-Video erzählen Betroffene ihre Geschichten: Von Kreditschulden, Druck durch die Banken und Zwangsdelogierungen. Geschichten, die die spanische Regierung lieber verschweigen würde. Seit dem Jahr 2008 wurden mehr als 170.000 Familien in Spanien zwangsdelogiert, erzählt die Aktivistin Iolanda Prats aus Valencia: „Bis zum November 2011 war diese Problematik gar nicht öffentlich bekannt. Die Betroffenen waren eingeschüchtert und verließen ihre Wohnungen still und heimlich. Ohne zu kämpfen.“ Den Rest des Beitrags lesen »





No nos vamos, nos echan – Spaniens Jugend ohne Zukunft

28 04 2013

SENDUNGEN: Digital.leben, Mittwoch, 27. März 2013, 16:55 Uhr, Ö1
Matrix, Sonntag, 28. April 2013, 22:30, Ö1

55,5 Prozent aller Spanier und Spanierinnen unter 25 Jahren sind derzeit arbeitslos. Die Krise treibt viele von ihnen ins Ausland – vor allem die gut ausgebildeten. Ein spanisches Internetprojekt möchte dieses Problem jetzt sichtbar machen. Die Protestbewegung „Juventud sin Futuro“ (Jugend ohne Zukunft) hat junge Exil-Spanier aufgerufen, auf einer interaktiven Weltkarte etwas über die Hintergründe ihrer Migration zu erzählen. „Wir gehen nicht von selbst – sie schmeißen uns raus“ – lautet das Motto. In den ersten vier Wochen haben sich bereits mehr als 7.000 Ausgewanderte dort eingetragen.

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Die Krise treibt junge Spanier ins Ausland

Der PR-Experte Dani (28) ist seiner Schwester ins irische Limerick gefolgt. Nachdem er in Spanien jahrelang vergeblich auf Jobsuche war, hofft er, in Irland mehr Glück zu haben. Ein 25-jähriger Barkeeper, der seinen echten Namen nicht verraten möchte, mixt seine Cocktails jetzt – als illegaler Schwarzarbeiter – in einer Bar in Argentinien. Die Architektin Rocío (26) hat einen Job in Wien gefunden, doch eigentlich wäre sie lieber bei ihrer Familie in Spanien. Mehrere Tausend solcher Geschichten findet man auf der spanischen Website: „No nos vamos – nos echan“ – was so viel heißt wie: wir gehen nicht von selbst, sie schmeißen uns raus. Den Rest des Beitrags lesen »





Kolumbien: Das Dorf der Unbeugsamen

23 04 2013

SENDUNG: Journal Panorama, Dienstag, 22. April 2013, 18:25 Uhr, Ö1

Seit fast 50 Jahren tobt in Kolumbien ein bewaffneter Konflikt. Linke Guerillagruppen kämpfen gegen die kolumbianische Armee und gegen rechtsgerichtete paramilitärische Einheiten. Zwischen die Fronten geraten oft Kleinbauern, die im Konfliktgebiet leben. 600.000 Menschenleben hat der Krieg bereits gefordert, vier Millionen Menschen wurden vertrieben. Sie flüchten in die Städte, wo die Armenviertel anwachsen. In der nordwestlichen Provinz Antioquia hat eine Gruppe von Kleinbauern beschlossen, sich nicht von ihrem Land vertreiben zu lassen. 

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Malen gegen das Vergessen

Doña Brígida González malt Bilder aus Wasserfarben: hellblauer Himmel, giftgrüne Hügel. Daneben schwarze Strichmännchen mit Gewehren, am Boden liegen acht Menschen in roter Blutlache. „Wir müssen uns immer an diese Gräueltaten erinnern, damit sich die Geschichte nicht wiederholt“, erklärt die kleine rundliche Frau mit den weißen Zöpfen und lächelt dabei sanft. Sie ist Gründungsmitglied der Friedensgemeinde San José de Apartadó: einer neutralen Zone mitten in der Konfliktzone Urabá, im Nordwesten Kolumbiens. In den umliegenden Wäldern kämpft die linke Guerilla FARC gegen die kolumbianische Regierungsarmee und rechte Paramilitärs. Den Rest des Beitrags lesen »





Südsudan: Mehr Chancen für Menschen mit Behinderung

22 01 2013

SENDUNG: Journal Panorama, Dienstag, 22. Jänner 2013, 18:25 Uhr, Ö1

80 Prozent aller Menschen mit Behinderung leben in Entwicklungsländern. Denn häufig ist die Ursache für Behinderungen Armut – oft in Kombination mit Krieg. Zum Beispiel im Südsudan. Vor eineinhalb Jahren hat sich der großteils christliche Süden des Sudan vom muslimischen Norden abgespalten. Nach einem mehr als 20 Jahren dauernden Bürgerkrieg, der zwei Millionen Menschenleben gefordert hat. Der Krieg hat Spuren hinterlassen: Bildungs- und Gesundheitssystem sind völlig zusammengebrochen und viele Menschen leiden heute an Behinderungen. Zahlreiche NGOs – auch aus Österreich – helfen derzeit im Südsudan beim Wiederaufbau des Landes. „Licht für die Welt“ zum Beispiel kümmert sich um die Bedürfnisse behinderter Menschen. Die Hilfsorganisation will ihnen Zugang zu assistierenden Technologien und Bildung schaffen.

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Flying Doctors

“Es war ein quälendes Interview”, wird Gerhard Schuhmann hinterher sagen. Schuld daran sind weniger meine Fragen, als vielmehr die Moskitos, die uns während des Gesprächs beinahe auffressen. Wir sitzen in der etwas abgelegenen südsudanesischen Provinz Mundri, am Gästeareal der lokalen Hilfsorganisation SEM, wo wir in einfachen Lehmhütten untergebracht sind. Es ist Dämmerung, die Jagdzeit der blutrünstigen Stechmücken hat begonnen. Sie freuen sich über das Frischfleisch aus Europa.

Der Augenarzt Gerhard Schuhmann ist im Vorstand der österreichischen NGO „Licht für die Welt“ und fährt bereits seit 30 Jahren immer wieder in diese Region. Während des Krieges war es kaum möglich, die Hauptstadt Juba zu verlassen, erzählt er: „Unmittelbar nach dem Friedensvertrag von 2005 sind wir von Kenia aus in sehr entlegene Gebiete hinein geflogen. Mit einem Operationsteam waren wir 1-2 Wochen dort und haben Augenoperationen durchgeführt”. Damals wurde der kleine Ort Lokichoggio in Kenia, nahe der Grenze zum Südsudan zum Verteilungszentrum für Hilfsgüter. Von dort flogen auch die Augenärzte in den Südsudan. Jetzt, nach der Staatsgründung, geht es darum, lokales Personal auszubilden und eigene Gesundheitsstrukturen aufzubauen, die bis in die entlegensten Gebiete reichen. Da steht noch sehr viel Arbeit bevor. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen.

Was Infrastruktur anbelangt, so ist der Südsudan das mit Abstand am wenigsten „entwickelte“ Land, das ich je besucht habe. Der Südsudan ist etwa so groß wie Deutschland, hat jedoch nur rund 100 Kilometer asphaltierte Straßen – und die Großteils rund um die Hauptstadt. Kraftwerk besitzt das am Weißen Nil gelegene Land kein einziges. Die gesamte Stromversorgung funktioniert nur mit Hilfe von Dieselgeneratoren.

Eine Kindheit auf der Flucht
Eine rote Sandstraße bildet das Zentrum der Provinzstadt Mundri Town. Links und rechts davon kleine Geschäfte mit Wellblechdächern. Hier werden Damenunterwäsche, Ziegelsteine und Bier verkauft. Letzteres meistens lauwarm. Abseits der Hauptstraße leben die Stadtbewohner in Lehmhütten mit Strohdächern. „Die wenigen, die Bildung haben, die bekommen jetzt Jobs in der Regierung“, erklärt uns eine Frau namens Ras Ulala, „für uns Analphabeten hat sich gar nichts geändert durch die Unabhängigkeit. Wir leiden nach wie vor.“

Ras Ulala hat fünf Kinder. Zwei davon sind intellektuell beeinträchtigt. Schuld daran ist die sogenannte Nickkrankheit – eine mysteriöse Krankheit, die das Gehirn schädigt und häufig in der Region Mundri auftritt. Die Familie wird von der christlichen Organisation SEM (South Sudan Evangelical Mission) betreut – lokale Projektpartner von „Licht für die Welt“. Sie ermutigen Ras Ulala, ihre Kinder trotzdem in die Schule zu schicken. So wie die meisten Erwachsenen hier in der Region, hat die Mutter selbst niemals eine Schule besucht. 18 Jahre ihres Lebens musste sie sich im Busch verstecken, denn der Bezirk Mundri war lange Zeit Kriegsschauplatz. Hier im Wald hatten die Rebellen der SPLA ihre Lager, die Regierungsarmee machte Jagd auf sie und bombardierte Dörfer aus der Luft.

„Immer wieder sind Soldaten der Regierungsarmee in den Busch gekommen, auf der Suche nach Rebellen. Sie haben Menschen umgebracht und ihre Sachen geraubt“, erzählt Matatia Korobo. Er ist einer der Mitbegründer der Hilfsorganisation SEM. „Darum waren wir ständig unterwegs von einem Ort zum anderen. Besonders hart war das für Frauen und Kinder. Die Leute schliefen im Freien, auch in der Regenzeit. Ohne Moskitonetz, ohne Matratze. Einfach so auf der Erde“, erinnert sich Matatio Korobo. Er stammt aus Mundri und ist heute 45 Jahre alt. Als er geboren wurde, tobte gerade der erste Unabhängigkeitskrieg im Süden des Sudan, der sogenannte Anya-Nya-Krieg (1975-72). Die ersten fünf Jahre seines Lebens verbrachte er im Busch, ständig auf der Flucht. Als nach wenigen Jahren des Friedens schließlich 1983 der nächste Unabhängigkeitskrieg begann, schloss er sich der Rebellenarmee SPLA an.

(c) ullae

Aus Rebellen werden Sozialarbeiter
Acht Jahre hat er gekämpft, dann ging er in ein Flüchtlingslager in Kenia. Nach dem Friedensabkommen 2005 kehrte er zurück: „Andere blieben im Lager. Bis heute. Viele haben psychische Probleme. Der Krieg wirkt immer noch nach. Aber es ist wichtig, den Leuten in den Lagern zu sagen, dass sie zurück kommen sollen in den Südsudan. Wir müssen ihnen dort etwas über ihr Land erzählen.“ Noch im Flüchtlingslager in Kenia gründete Matatio Korobo gemeinsam mit anderen ehemaligen Kämpfern die sudanesische evangelische Mission (SEM). Die NGO betreibt heute Sozial- und Bildungsarbeit im Bezirk Mundri und kümmert sich vor allem um Menschen mit Behinderung. Die Mitarbeiter von SEM versuchen, auszukundschaften, wo Familien mit behinderten Kindern leben. Denn solche Kinder gelten hier als Strafe Gottes und werden häufig versteckt. SEM schickt Trainer vorbei, die – je nach Art der Behinderung – therapeutische Turnübungen machen, Braille-Schrift oder Gebärdensprache üben.

Doch, nicht aus allen ehemaligen Rebellen wurden Sozialarbeiter. Immer wieder sieht man im Südsudan bewaffnete Uniformierte, die im Schatten der Bäume untätig herumsitzen. Die SPLA, die Armee des Südsudan muss dringend verkleinert werden, meint Bullen Abetara, Lokalchef der Regierungspartei SPLM in Mundri: „Wir haben begonnen, die ehemaligen Kämpfer wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie werden entwaffnet und gehen zurück zu ihrer Familien. Wir brauchen nicht so eine riesige Armee. Und wir sind auch gar nicht in der Lage, sie zu bezahlen.“

Ganz friedlich ist die Lage im Südsudan freilich noch nicht: Im östlichen Bundesstaat Jonglei kämpft Rebellenführer David Yao Yao gegen die Zentralregierung in Juba. Im Norden gibt es immer wieder Konflikte mit dem Erzfeind Sudan um den Grenzverlauf. Jetzt hofft Bullen Abeatar dringend darauf, dass das Erdöl irgendwann wieder zu fließen beginnt und dass ein Teil der Einnahmen auch bis in seine Provinz, nach Mundri, gelangen. Um Straßen zu bauen, ein Stromnetz, Krankenhäuser und vor allem: Schulen. Denn zwei Jahrzehnte Krieg haben das Bildungssystem komplett ruiniert.

Unterrichten aus Idealismus
Schauplatzwechsel. Die Upper Primary School in Lui ist eine von sieben Volksschulen im Bezirk Mundri West. Die Wände der Klassenräume sind übersät mit Einschusslöchern – und mit Graffitis, die an Verstorbene Kämpfer erinnern. Während des Krieges – als die Bevölkerung in den Busch geflüchtet war – diente das Schulgebäude als Unterkunft für Soldaten. Heute werden hier 1.000 Schüler und Schülerinnen unterrichtet. Von nur 18 Lehrern, erzählt Peter Wula Elika, einer der ältesten Lehrer hier: „Wir bekommen fast kein Geld von der Regierung. Aber Gott ist groß und unser Land muss sich erst entwickeln, es ist noch sehr jung. Ein Kind kann ja auch nicht an einem Tag wachsen.“ Kaum ein Lehrer im Südsudan kann von seinem Gehalt leben. Oft bekommen sie ihr Geld erst mit monatelanger Verspätung. Die meisten betreiben nebenbei eine kleine Landwirtschaft. Englisch ist die offizielle Amtssprache im Südsudan. Der Lehrer Peter Wula Elika spricht es gebrochen. Und doch wird es seine Aufgabe sein, die Sprache den Kindern beizubringen.

Im Bildungsministerium in der Hauptstadt Juba spricht man die Probleme offen an: „Eines unserer Probleme ist die Infrastruktur, ein anderes die Qualität der Lehrer. 44 Prozent der Lehrer haben nur einen Volksschulabschluss. In Europa würden sie nicht einmal in die Nähe einer Klasse kommen – es sei denn als Schüler. 53 Prozent der Lehrer haben Matura und nur drei Prozent einen Universitätsabschluss“, sagt Bildungsstaatssekretär Deng Deng Hoc Yai. Er hat ehrgeizige Pläne: Bereits in fünf Jahren soll mehr als die Hälfte der Lehrer einen Universitätsabschluss haben und die Gesamtzahl der Lehrer soll sich verdoppeln.

Wandernde Schulen
Deng Deng Hoc Yai hat in Kairo und London studiert. Sein Englisch ist hervorragend, seine Ausdrucksweise gewählt und er wirft mit Zahlen ums ich, ohne ein einziges Mal in seine Unterlagen blicken zu müssen. Doch ursprünglich stammt er aus einem kleinen Dorf im Bundesstaat Bhar El Ghazal, erzählt er. Seine Eltern waren Analphabeten und sein genaues Geburtsdatum kennt er nicht. Er hatte als einer der wenigen aus seinem Dorf die Möglichkeit, die städtische Schule zu besuchen. Etwa einer Million Kinder im Südsudan – das ist ca. ein Drittel – bleibt der Schulbesuch heute verwehrt. Man müsse die Schulen zu den Kindern bringen und nicht ländliche Kinder in städtische Schulen, betont der Staatssekretär für Bildung: „Gerade in ländlichen Regionen, wo viele Nomaden und Viehzüchter leben, ist das ein Problem. Die Eltern würden ihre Kinder niemals allein in die Stadt schicken. Daher versuchen wir, mobile Schulen zu entwickeln, die den Rinderherden folgen.“

In den kommenden Jahren will die südsudanesische Regierung zehn Prozent ihres Budgets in den Bildungssektor stecken – vorausgesetzt es gibt wieder Einnahmen. Derzeit ist der Südsudan abhängig von internationalen Hilfsgeldern. Ein Schwerpunkt des Bildungsministeriums: Kinder mit Behinderungen sollen in den normalen Unterricht integriert werden, erklärt Deng Deng Hoc Yai. Denn durch den Krieg wurden viele Menschen verletzt und verstümmelt. „Es wurden häufig Streubomben abgeworfen, in denen Nägel und andere spitze Gegenstände drin waren“, erinnert sich Hoc Yai. Auch Landminen seien nach wie vor vergraben.

Die Blindheit lauert beim Fluss
Der Krieg ist aber auch indirekt schuld an vielen Behinderungen im Südsudan. Denn die Gesundheitsversorgung brach in dieser Zeit völlig zusammen. Impfungen gab es nicht und die Kinderlähmung breitete sich aus. Unbehandelte Viruserkrankungen hinterließen bleibende Schäden. Viele Menschen in Afrika erblinden am Grauen Star. Dieser ließe sich mit einer einfachen Operation schnell beseitigen. Hier in der Region um Mundri ist es vor allem der Onchocerca volvolus (OV), der Menschen blind macht – der Erreger der sogenannten Flussblindheit, erklärt Augenarzt Gerhard Schuhmann. Der Name kommt daher, dass die Krankheit meist in der Nähe von schnell fließenden Gewässern auftritt. Der OV ist ein kleiner Fadenwurm. Er lebt im Verdauungstrakt von schwarzen Fliegen, die an Flüssen nisten. Beim Stich in die Haut wird der Erreger auf den Menschen übertragen. Der Fadenwurm breitet sich im ganzen Körper aus. Trifft er den Sehnerv, wird man blind. Gegen die Flussblindheit gibt es Medikamente, die präventiv eingenommen werden können. In manchen Regionen Afrikas ist die Krankheit mittlerweile fast ausgerottet, weil flächendeckend Tabletten verteilt wurden. Im Südsudan nicht.

Amaya Martin war 16 Jahre alt, als ihm der Onchocerca volvolus das Augenlicht nahm. Damals war er verzweifelt, wollte wochenlang seine Hütte nicht verlassen und versank in Depressionen. Mittlerweile kommt er zurecht mit den täglichen Dingen. Mit seinem Blindenstock hat er gelernt, sich zu orientieren. Die täglichen Wege findet er auch allein. Er besucht Nachbarn, arbeitet auf dem Feld und er besucht wieder die Schule. Mit Hilfe eines Speziallehrers der Hilfsorganisation SEM hat Amaya Martin Braille-Schrift gelernt. Der Lehrer begleitet ihn 2-3 mal die Woche zum Unterricht und erzählt ihm im Flüsterton, was gerade vor sich geht. „Wenn ich meine Ausbildung beendet habe, möchte ich einen Job bekommen. Lehrer zum Beispiel. Ich würde gerne anderen etwas beibringen“, sagt Amaya Martin.

Neustart für die inklusive Bildung
Kein unrealistischer Wunsch. Schon heute trifft man in Südsudans Schulen Lehrer mit unterschiedlichen Behinderungen. Das südsudanesische Bildungsministerium hat einen 5-Jahres-Plan ausgearbeitet, wie man Schüler mit Behinderungen besser in das allgemeine Unterrichtssystem integrieren kann. Auch in diesem Bereich, war man früher – vor dem Krieg – schon einmal weiter. In den 1980ern und 90ern gab es Ausbildungsmöglichkeiten für sehbehinderte Menschen. Die Organisation SEM plant – mit Unterstützung von „Licht für die Welt“ – in den kommenden Jahren auch verstärkt Schulungen für nicht-behinderte Lehrer in Braille-Schrift und Gebärdensprache. Es sei wichtig, behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten, erklärt Peter Muasya vom „Licht für die Welt“-Büro im Südsudan. Er hält nichts vom Konzept „Sonderschule“, wie es in einigen Nachbarländern praktiziert wird. Denn dann würden die Menschen ihr Leben lang ausgegrenzt bleiben.

Dass das Bildungssystem von Null weg neu aufgebaut werden muss, sei in diesem Fall sogar ein Vorteil, erklären Vertreter von „Licht für die Welt“. Denn jetzt könne man es von vornherein als „inklusives“ Bildungssystem für behinderte und nicht-behinderte Kinder gestalten. Und das sei vermutlich einfacher, als ein bestehendes System zu verändern.

DL

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Südsudan: Warten auf das Erdöl

22 11 2012

SENDUNG: Mittagsjournal, Donnerstag, 22. November 2012, 12:00 Uhr, Ö1 / Ö1 zum Nachhören

Seit mittlerweile elf Monaten stehen im ölreichen Südsudan die Ölförderanlagen still. Der Grund: Auseinandersetzungen mit dem nördlichen Nachbarn Sudan, von dem sich der Süden vergangenes Jahr nach einem langen Krieg abgespalten hat. Dem Süden gehört jetzt ein Großteil der Erdölvorkommen, die Leitungen führen aber durch den Norden. Nach großem internationalen Druck haben die beiden Konfliktparteien Ende Oktober ein Kooperationsabkommen unterzeichnet. Wichtige Frage zur Grenzziehung sind zwar noch offen, aber immerhin soll in den kommenden Monaten wieder Öl fließen. Höchste Zeit, denn 98 Prozent der südsudanesischen Staatseinnahmen kommen aus der Ölförderung. Unter den Folgen des Förderstopps leidet die Bevölkerung des Landes zunehmend. Der Kampf gegen die Korruption ist eine Bedingung der internationalen Geldgeber für Hilfszahlungen. Aber auch um Menschenrechte und Demokratisierung steht es nicht zum besten.

Sparpakete und Hilfsgelder

Die Provinzstadt Mundri Town, etwa 160 Kilometer westlich der südsudanesischen Hauptstadt Juba: Hier gibt es weder asphaltierte Straßen, noch ein Stromnetz. Viele Menschen sterben an vermeidbaren Krankheiten. Es mangelt an Ärzten und Medikamenten. Den Rest des Beitrags lesen »





Äthiopien: Hungerbekämpfung durch Ökotourismus

23 07 2012

SENDUNG: Journal Panorama, Dienstag, 24. Juli 2012,
18:25 Uhr, Ö1

Hungersnöte, Dürrekatastrophen, entführte Touristen: Es sind selten positive Nachrichten, mit denen Äthiopien in die Schlagzeilen kommt. Dem äthiopischen Tourismusministerium ist das negative Image des Landes ein Dorn im Auge. Schließlich möchte das Land in den kommenden Jahren unter die Top 5-Tourismusdestinationen in Afrika kommen.

Bettelnde Kinder und küssende Touristen

Ziggy Yohannes stockt und schaut vorsichtig zum Vertreter des regionalen Landwirtschaftsbüros von Nord-Gondar hinüber: Darf er wirklich ehrlich auf die Frage antworten, ob der Tourismus auch Schattenseiten hat? Nach langem Zögern erzählt er uns von jungen Mädchen aus armen Familien, die von weißen Touristen verführt und dann sitzengelassen werden. Von aufkommendem Sextourismus und Prostitution, von westlichen Pärchen, die sich zum Entsetzen der Dorfleute öffentlich küssen. Teshome Mulu vom Landwirtschaftsbüro hält es auch für bedenklich, dass immer mehr Kinder beginnen, auf der Straße Touristen anzubetteln anstatt in die Schule zu gehen. Den Rest des Beitrags lesen »





Nahrungsmittelkrise im Tschad

10 04 2012

SENDUNG: Mittagsjournal, Freitag, 6. April 2012, 12:00 Uhr, Ö1 / 7 Tage Ö1 zum Nachhören

In der westafrikanischen Sahel-Zone herrscht die schlimmste Dürre seit Jahren. 13 Millionen Menschen sind laut Caritas akut bedroht. Um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, muss jetzt schnell gehandelt werden. Die UNO rechnet mit Kosten von 725 Millionen Dollar, Österreich hat bereits 1,5 Millionen Euro an Hilfsgeldern zugesagt.

Getreide aus dem Ameisenbau

Mitten im Sahelgürtel, südlich des Tschadsees, gräbt eine Frau im Dorf Douguia in einem unterirdischen Ameisenbau nach Samen. Daraus könne sie jetzt einen Brei kochen, erklärt sie. Denn die eigenen Getreidevorräte aus Mais, Hirse und Reis sind längst aufgebraucht. „Dieses Jahr konnten wir fast gar nichts ernten. Im Augenblick leben wir von Dingen, die hier wild wachsen. Doch selbst die Ameisenhügel sind schon fast leergeräumt. Wir haben hier keine Ressourcen mehr.“ Den Rest des Beitrags lesen »





Schuften für den Weltmarkt: Arbeiterbewegungen in Hongkong und China

24 01 2012

SENDUNG: Journal Panorama, Dienstag, 24. Jänner 2012,
18:25 Uhr, Ö1

Offiziell gehört Hongkong seit 1997 zur Volksrepublik China. Doch nach wie vor gibt es in der Sonderverwaltungszone Marktwirtschaft und Demokratie. Hongkong hat seine eigene Währung, eine eigene Regierung und freie Wahlen. Daher engagieren sich viele NGOs von Hongkong aus für die Rechte der Arbeiter und Arbeiterinnen in den chinesischen Industriezonen. Doch auch in der Sondervewaltungszone selbst wächst die Unzufriedenheit – speziell bei den Frauen, deren Arbeitsbedingungen besonders hart sind.

Made in China

Grell bunte Leuchtreklamen überall entlang der Nathan Road, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen im Hongkonger Stadtzentrum Kowloon. Sie rufen: Kauf mich! Kauf mich! Vor den Kaufhaustempeln stehen meist ältere Menschen mit handgeklebten Werbetafeln aus Pappendeckel, angeheuert von den Kaufhäusern. Tag für Tag stehen sie hier, bis zu zehn Stunden. Sozialversichert sind sie nicht. Und auch der Mindestlohn von umgerechnet 2,80 Euro gilt für sie nicht. Während teure Luxusartikel in Hongkong Rekordumsätze machen, wächst der informelle Sektor ständig an, die prekär Beschäftigten, die irgendwie ums Überleben kämpfen. Den Rest des Beitrags lesen »





Schule unter Bäumen: Eine katholische Mission im mosambikanischen Busch

16 12 2011

SENDUNG: Praxis – Religion und Gesellschaft, Freitag,
16. Dezember 2011, 22:15 Uhr, Ö1

Mosambik, im südlichen Afrika, ist eines der ärmsten Länder der Welt. Mehr als die Hälfte der Menschen lebt unter der Armutsgrenze, die meisten davon betreiben Subsistenzlandwirtschaft. Zwei Drittel der Frauen und etwa die Hälfte der Männer können weder schreiben noch lesen. Und gleichzeitig ist Mosambik eines jener zehn Länder mit der höchsten HIV-Rate weltweit. Das Land ist in hohem Maße abhängig von ausländischen Hilfsgeldern – auch von österreichischen, denn Mosambik ist seit 1993 Schwerpunktland der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit. Und auch kirchliche NGOs sind in Mosambik aktiv. HORIZONT3000 und die österreichische Caritas zum Beispiel unterstützen Missionen in Zentralmosambik, die von italienichen Comboni-Missionaren betrieben werden. Sie kümmern sich um Bildung und Gesundheitsversorgung der lokalen Bevölkerung.

In the Middle of Nowhere

Um nach Mangunde zu gelangen fährt man mehrere Stunden mit dem Geländewagen durch den Busch auf holprigen Sandstraßen. Gelegentlich begegnet man einem Radfahrer oder Frauen, die Kanister mit Trinkwasser auf dem Kopf transportieren. Autos sieht man keine. Dörfer auch nicht – bestenfalls vereinzelte Lehmhütten. Und dann plötzlich: die Mission. Mit gemauerten Häusern, Schule und Gesundheitsstation, quasi eine Mini-Stadt mitten im Nichts. Hier gibt es mittlerweile sogar Internet und Strom. Den Rest des Beitrags lesen »