SENDUNG: Journal Panorama, Dienstag, 22. Jänner 2013, 18:25 Uhr, Ö1
80 Prozent aller Menschen mit Behinderung leben in Entwicklungsländern. Denn häufig ist die Ursache für Behinderungen Armut – oft in Kombination mit Krieg. Zum Beispiel im Südsudan. Vor eineinhalb Jahren hat sich der großteils christliche Süden des Sudan vom muslimischen Norden abgespalten. Nach einem mehr als 20 Jahren dauernden Bürgerkrieg, der zwei Millionen Menschenleben gefordert hat. Der Krieg hat Spuren hinterlassen: Bildungs- und Gesundheitssystem sind völlig zusammengebrochen und viele Menschen leiden heute an Behinderungen. Zahlreiche NGOs – auch aus Österreich – helfen derzeit im Südsudan beim Wiederaufbau des Landes. „Licht für die Welt“ zum Beispiel kümmert sich um die Bedürfnisse behinderter Menschen. Die Hilfsorganisation will ihnen Zugang zu assistierenden Technologien und Bildung schaffen.
Flying Doctors
“Es war ein quälendes Interview”, wird Gerhard Schuhmann hinterher sagen. Schuld daran sind weniger meine Fragen, als vielmehr die Moskitos, die uns während des Gesprächs beinahe auffressen. Wir sitzen in der etwas abgelegenen südsudanesischen Provinz Mundri, am Gästeareal der lokalen Hilfsorganisation SEM, wo wir in einfachen Lehmhütten untergebracht sind. Es ist Dämmerung, die Jagdzeit der blutrünstigen Stechmücken hat begonnen. Sie freuen sich über das Frischfleisch aus Europa.
Der Augenarzt Gerhard Schuhmann ist im Vorstand der österreichischen NGO „Licht für die Welt“ und fährt bereits seit 30 Jahren immer wieder in diese Region. Während des Krieges war es kaum möglich, die Hauptstadt Juba zu verlassen, erzählt er: „Unmittelbar nach dem Friedensvertrag von 2005 sind wir von Kenia aus in sehr entlegene Gebiete hinein geflogen. Mit einem Operationsteam waren wir 1-2 Wochen dort und haben Augenoperationen durchgeführt”. Damals wurde der kleine Ort Lokichoggio in Kenia, nahe der Grenze zum Südsudan zum Verteilungszentrum für Hilfsgüter. Von dort flogen auch die Augenärzte in den Südsudan. Jetzt, nach der Staatsgründung, geht es darum, lokales Personal auszubilden und eigene Gesundheitsstrukturen aufzubauen, die bis in die entlegensten Gebiete reichen. Da steht noch sehr viel Arbeit bevor. Der Krieg hat seine Spuren hinterlassen.
Was Infrastruktur anbelangt, so ist der Südsudan das mit Abstand am wenigsten „entwickelte“ Land, das ich je besucht habe. Der Südsudan ist etwa so groß wie Deutschland, hat jedoch nur rund 100 Kilometer asphaltierte Straßen – und die Großteils rund um die Hauptstadt. Kraftwerk besitzt das am Weißen Nil gelegene Land kein einziges. Die gesamte Stromversorgung funktioniert nur mit Hilfe von Dieselgeneratoren.
Eine Kindheit auf der Flucht
Eine rote Sandstraße bildet das Zentrum der Provinzstadt Mundri Town. Links und rechts davon kleine Geschäfte mit Wellblechdächern. Hier werden Damenunterwäsche, Ziegelsteine und Bier verkauft. Letzteres meistens lauwarm. Abseits der Hauptstraße leben die Stadtbewohner in Lehmhütten mit Strohdächern. „Die wenigen, die Bildung haben, die bekommen jetzt Jobs in der Regierung“, erklärt uns eine Frau namens Ras Ulala, „für uns Analphabeten hat sich gar nichts geändert durch die Unabhängigkeit. Wir leiden nach wie vor.“
Ras Ulala hat fünf Kinder. Zwei davon sind intellektuell beeinträchtigt. Schuld daran ist die sogenannte Nickkrankheit – eine mysteriöse Krankheit, die das Gehirn schädigt und häufig in der Region Mundri auftritt. Die Familie wird von der christlichen Organisation SEM (South Sudan Evangelical Mission) betreut – lokale Projektpartner von „Licht für die Welt“. Sie ermutigen Ras Ulala, ihre Kinder trotzdem in die Schule zu schicken. So wie die meisten Erwachsenen hier in der Region, hat die Mutter selbst niemals eine Schule besucht. 18 Jahre ihres Lebens musste sie sich im Busch verstecken, denn der Bezirk Mundri war lange Zeit Kriegsschauplatz. Hier im Wald hatten die Rebellen der SPLA ihre Lager, die Regierungsarmee machte Jagd auf sie und bombardierte Dörfer aus der Luft.
„Immer wieder sind Soldaten der Regierungsarmee in den Busch gekommen, auf der Suche nach Rebellen. Sie haben Menschen umgebracht und ihre Sachen geraubt“, erzählt Matatia Korobo. Er ist einer der Mitbegründer der Hilfsorganisation SEM. „Darum waren wir ständig unterwegs von einem Ort zum anderen. Besonders hart war das für Frauen und Kinder. Die Leute schliefen im Freien, auch in der Regenzeit. Ohne Moskitonetz, ohne Matratze. Einfach so auf der Erde“, erinnert sich Matatio Korobo. Er stammt aus Mundri und ist heute 45 Jahre alt. Als er geboren wurde, tobte gerade der erste Unabhängigkeitskrieg im Süden des Sudan, der sogenannte Anya-Nya-Krieg (1975-72). Die ersten fünf Jahre seines Lebens verbrachte er im Busch, ständig auf der Flucht. Als nach wenigen Jahren des Friedens schließlich 1983 der nächste Unabhängigkeitskrieg begann, schloss er sich der Rebellenarmee SPLA an.
Aus Rebellen werden Sozialarbeiter
Acht Jahre hat er gekämpft, dann ging er in ein Flüchtlingslager in Kenia. Nach dem Friedensabkommen 2005 kehrte er zurück: „Andere blieben im Lager. Bis heute. Viele haben psychische Probleme. Der Krieg wirkt immer noch nach. Aber es ist wichtig, den Leuten in den Lagern zu sagen, dass sie zurück kommen sollen in den Südsudan. Wir müssen ihnen dort etwas über ihr Land erzählen.“ Noch im Flüchtlingslager in Kenia gründete Matatio Korobo gemeinsam mit anderen ehemaligen Kämpfern die sudanesische evangelische Mission (SEM). Die NGO betreibt heute Sozial- und Bildungsarbeit im Bezirk Mundri und kümmert sich vor allem um Menschen mit Behinderung. Die Mitarbeiter von SEM versuchen, auszukundschaften, wo Familien mit behinderten Kindern leben. Denn solche Kinder gelten hier als Strafe Gottes und werden häufig versteckt. SEM schickt Trainer vorbei, die – je nach Art der Behinderung – therapeutische Turnübungen machen, Braille-Schrift oder Gebärdensprache üben.
Doch, nicht aus allen ehemaligen Rebellen wurden Sozialarbeiter. Immer wieder sieht man im Südsudan bewaffnete Uniformierte, die im Schatten der Bäume untätig herumsitzen. Die SPLA, die Armee des Südsudan muss dringend verkleinert werden, meint Bullen Abetara, Lokalchef der Regierungspartei SPLM in Mundri: „Wir haben begonnen, die ehemaligen Kämpfer wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Sie werden entwaffnet und gehen zurück zu ihrer Familien. Wir brauchen nicht so eine riesige Armee. Und wir sind auch gar nicht in der Lage, sie zu bezahlen.“
Ganz friedlich ist die Lage im Südsudan freilich noch nicht: Im östlichen Bundesstaat Jonglei kämpft Rebellenführer David Yao Yao gegen die Zentralregierung in Juba. Im Norden gibt es immer wieder Konflikte mit dem Erzfeind Sudan um den Grenzverlauf. Jetzt hofft Bullen Abeatar dringend darauf, dass das Erdöl irgendwann wieder zu fließen beginnt und dass ein Teil der Einnahmen auch bis in seine Provinz, nach Mundri, gelangen. Um Straßen zu bauen, ein Stromnetz, Krankenhäuser und vor allem: Schulen. Denn zwei Jahrzehnte Krieg haben das Bildungssystem komplett ruiniert.
Unterrichten aus Idealismus
Schauplatzwechsel. Die Upper Primary School in Lui ist eine von sieben Volksschulen im Bezirk Mundri West. Die Wände der Klassenräume sind übersät mit Einschusslöchern – und mit Graffitis, die an Verstorbene Kämpfer erinnern. Während des Krieges – als die Bevölkerung in den Busch geflüchtet war – diente das Schulgebäude als Unterkunft für Soldaten. Heute werden hier 1.000 Schüler und Schülerinnen unterrichtet. Von nur 18 Lehrern, erzählt Peter Wula Elika, einer der ältesten Lehrer hier: „Wir bekommen fast kein Geld von der Regierung. Aber Gott ist groß und unser Land muss sich erst entwickeln, es ist noch sehr jung. Ein Kind kann ja auch nicht an einem Tag wachsen.“ Kaum ein Lehrer im Südsudan kann von seinem Gehalt leben. Oft bekommen sie ihr Geld erst mit monatelanger Verspätung. Die meisten betreiben nebenbei eine kleine Landwirtschaft. Englisch ist die offizielle Amtssprache im Südsudan. Der Lehrer Peter Wula Elika spricht es gebrochen. Und doch wird es seine Aufgabe sein, die Sprache den Kindern beizubringen.
Im Bildungsministerium in der Hauptstadt Juba spricht man die Probleme offen an: „Eines unserer Probleme ist die Infrastruktur, ein anderes die Qualität der Lehrer. 44 Prozent der Lehrer haben nur einen Volksschulabschluss. In Europa würden sie nicht einmal in die Nähe einer Klasse kommen – es sei denn als Schüler. 53 Prozent der Lehrer haben Matura und nur drei Prozent einen Universitätsabschluss“, sagt Bildungsstaatssekretär Deng Deng Hoc Yai. Er hat ehrgeizige Pläne: Bereits in fünf Jahren soll mehr als die Hälfte der Lehrer einen Universitätsabschluss haben und die Gesamtzahl der Lehrer soll sich verdoppeln.
Wandernde Schulen
Deng Deng Hoc Yai hat in Kairo und London studiert. Sein Englisch ist hervorragend, seine Ausdrucksweise gewählt und er wirft mit Zahlen ums ich, ohne ein einziges Mal in seine Unterlagen blicken zu müssen. Doch ursprünglich stammt er aus einem kleinen Dorf im Bundesstaat Bhar El Ghazal, erzählt er. Seine Eltern waren Analphabeten und sein genaues Geburtsdatum kennt er nicht. Er hatte als einer der wenigen aus seinem Dorf die Möglichkeit, die städtische Schule zu besuchen. Etwa einer Million Kinder im Südsudan – das ist ca. ein Drittel – bleibt der Schulbesuch heute verwehrt. Man müsse die Schulen zu den Kindern bringen und nicht ländliche Kinder in städtische Schulen, betont der Staatssekretär für Bildung: „Gerade in ländlichen Regionen, wo viele Nomaden und Viehzüchter leben, ist das ein Problem. Die Eltern würden ihre Kinder niemals allein in die Stadt schicken. Daher versuchen wir, mobile Schulen zu entwickeln, die den Rinderherden folgen.“
In den kommenden Jahren will die südsudanesische Regierung zehn Prozent ihres Budgets in den Bildungssektor stecken – vorausgesetzt es gibt wieder Einnahmen. Derzeit ist der Südsudan abhängig von internationalen Hilfsgeldern. Ein Schwerpunkt des Bildungsministeriums: Kinder mit Behinderungen sollen in den normalen Unterricht integriert werden, erklärt Deng Deng Hoc Yai. Denn durch den Krieg wurden viele Menschen verletzt und verstümmelt. „Es wurden häufig Streubomben abgeworfen, in denen Nägel und andere spitze Gegenstände drin waren“, erinnert sich Hoc Yai. Auch Landminen seien nach wie vor vergraben.
Die Blindheit lauert beim Fluss
Der Krieg ist aber auch indirekt schuld an vielen Behinderungen im Südsudan. Denn die Gesundheitsversorgung brach in dieser Zeit völlig zusammen. Impfungen gab es nicht und die Kinderlähmung breitete sich aus. Unbehandelte Viruserkrankungen hinterließen bleibende Schäden. Viele Menschen in Afrika erblinden am Grauen Star. Dieser ließe sich mit einer einfachen Operation schnell beseitigen. Hier in der Region um Mundri ist es vor allem der Onchocerca volvolus (OV), der Menschen blind macht – der Erreger der sogenannten Flussblindheit, erklärt Augenarzt Gerhard Schuhmann. Der Name kommt daher, dass die Krankheit meist in der Nähe von schnell fließenden Gewässern auftritt. Der OV ist ein kleiner Fadenwurm. Er lebt im Verdauungstrakt von schwarzen Fliegen, die an Flüssen nisten. Beim Stich in die Haut wird der Erreger auf den Menschen übertragen. Der Fadenwurm breitet sich im ganzen Körper aus. Trifft er den Sehnerv, wird man blind. Gegen die Flussblindheit gibt es Medikamente, die präventiv eingenommen werden können. In manchen Regionen Afrikas ist die Krankheit mittlerweile fast ausgerottet, weil flächendeckend Tabletten verteilt wurden. Im Südsudan nicht.
Amaya Martin war 16 Jahre alt, als ihm der Onchocerca volvolus das Augenlicht nahm. Damals war er verzweifelt, wollte wochenlang seine Hütte nicht verlassen und versank in Depressionen. Mittlerweile kommt er zurecht mit den täglichen Dingen. Mit seinem Blindenstock hat er gelernt, sich zu orientieren. Die täglichen Wege findet er auch allein. Er besucht Nachbarn, arbeitet auf dem Feld und er besucht wieder die Schule. Mit Hilfe eines Speziallehrers der Hilfsorganisation SEM hat Amaya Martin Braille-Schrift gelernt. Der Lehrer begleitet ihn 2-3 mal die Woche zum Unterricht und erzählt ihm im Flüsterton, was gerade vor sich geht. „Wenn ich meine Ausbildung beendet habe, möchte ich einen Job bekommen. Lehrer zum Beispiel. Ich würde gerne anderen etwas beibringen“, sagt Amaya Martin.
Neustart für die inklusive Bildung
Kein unrealistischer Wunsch. Schon heute trifft man in Südsudans Schulen Lehrer mit unterschiedlichen Behinderungen. Das südsudanesische Bildungsministerium hat einen 5-Jahres-Plan ausgearbeitet, wie man Schüler mit Behinderungen besser in das allgemeine Unterrichtssystem integrieren kann. Auch in diesem Bereich, war man früher – vor dem Krieg – schon einmal weiter. In den 1980ern und 90ern gab es Ausbildungsmöglichkeiten für sehbehinderte Menschen. Die Organisation SEM plant – mit Unterstützung von „Licht für die Welt“ – in den kommenden Jahren auch verstärkt Schulungen für nicht-behinderte Lehrer in Braille-Schrift und Gebärdensprache. Es sei wichtig, behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten, erklärt Peter Muasya vom „Licht für die Welt“-Büro im Südsudan. Er hält nichts vom Konzept „Sonderschule“, wie es in einigen Nachbarländern praktiziert wird. Denn dann würden die Menschen ihr Leben lang ausgegrenzt bleiben.
Dass das Bildungssystem von Null weg neu aufgebaut werden muss, sei in diesem Fall sogar ein Vorteil, erklären Vertreter von „Licht für die Welt“. Denn jetzt könne man es von vornherein als „inklusives“ Bildungssystem für behinderte und nicht-behinderte Kinder gestalten. Und das sei vermutlich einfacher, als ein bestehendes System zu verändern.
DL
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